On borders’ multiplicity: A perspective from assemblage theory

On borders’ multiplicity: A perspective from assemblage theory

Grenzraum
Worldwide
Sprache(n)
Englisch
Einleitung

Sohn nutzt die von Deleuze und Guattari (1987) inspirierte Assemblage Theorie, um eine neue, multiple Perspektive auf Grenzen und Grenzraumforschung zu ermöglichen.

Zusammenfassung

Die Grenze als primäres Objekt der Border Studies lässt sich nicht auf ihre begrenzende oder verbindende Funktion reduzieren, sondern muss in ihrer ontologischen Multidimensionalität betrachtet und analysiert werden. Dafür wendet Christophe Sohn das von Deleuze und Guattari (1987) inspirierte Konzept des Assemblage auf die Grenze an, welches dabei hilft ihren multiplen, wandelbaren Charakter und ihre mannigfaltigen Bedeutungen und damit verbundenen Praktiken und Machtbeziehungen zu verstehen.

Inhalt

Das Feld der Border Studies hat sich durch die Öffnung gegenüber der kritischen sozialen Theorie und interdisziplinärer Forschung weit entwickelt. Grenzen werden nicht mehr als politisch-territoriale statische Linien gesehen, sondern haben einen multiplen Charakter der sich unter anderem in unterschiedlichen soziokulturellen Grenzpraktiken und Diskursen ausdrückt. Grenzen sind also fluide, vielfältige Gefüge, die sowohl geopolitische Belange als auch alltägliche Praktiken illustrieren. Sohn wendet in seinem Artikel das Konzept des Assemblage, welches von den Philosophen Gilles Deleuze und Félix Guattari (1987) entwickelt wurde, auf die Grenze an, um ihre ontologische Multidimensionalität besser zu verstehen (S. 1).

Die Grenze wird oft nur als Synekdoche beschrieben. Das heißt, dass eine einzige Funktion der Grenze, z.B. ihre ausschließende Funktion, als das Ganze betrachtet wird, oder dass etwas Ganzes, z.B. die staatliche Überwachung, mit einem Teil, also der Grenze gleichgesetzt wird (S. 4). Der Autor kritisiert diese Essentialisierung der Grenze und ihre Reduktion auf die ausschließende und teilende oder öffnende und verbindende Funktion. Während die Theorie der grenzenlosen Welt in den 1990ern im Zuge der Globalisierung und der weltweiten Verbreitung des neoliberalen Wirtschaftssystems aufkam (S. 3), findet sich die Idee, allumfassender Grenzen vor allem seit den 2000ern in Bezug auf verstärkte Grenzkontrollen, die nicht mehr nur an Staatsaußengrenzen stattfinden. Diese Betrachtung von Grenze ist laut Sohn zu simpel und erfasst nicht ihre mannigfaltigen Rollen, diversen Bedeutungen und multidimensionalen, wandelbaren Charakter (S. 4). Eine Grenze existiert nicht aus sich selbst heraus, sondern erst durch die Bedeutung, die ihr zugeschrieben wird. Die Grenze wird durch die Beziehungen der Bedeutungen und Praktiken und die Art und Weise, wie diese an Einfluss und Legitimität gewinnen, bestimmt. In dieser relationalen Betrachtungsweise von Grenzen, sieht Sohn die Chance eines besseren Verständnisses der selbigen (S. 5). Der Autor nutzt die Assemblage Theorie als „conceptual toolbox“, die dabei hilft die Komplexität von Grenzen zu erfassen (S. 6). Er führt vier Merkmale des Assemblage Denkens an, die sich auf Grenzen anwenden lassen.

  1. Ein Assemblage wird durch heterogene Gruppeirungen von unterschiedlichen Teilen gebildet, ohne dass sich ein kohärentes Ganzes formt. Ebenso bestehen Grenzen aus unterschiedlichsten Teilen und Praktiken, wie physischen Infrastrukturen, kontrollierenden Praktiken und Artefakten, Überwachungstechnologie, Transportnetzwerken etc. Außerdem kann sich die Grenze an verschiedenen Orten, Zonen und Netzwerken gleichzeitig manifestieren und wird durch Rituale, Symbole, Praktiken und physische Entitäten bestärkt und geformt (ebd.).
  2. Die Elemente eines Assmeblage werden durch Beziehungen zusammengehalten, die zwar „contingently obligatory“ aber nicht „logically necessary“ sind (S. 7). Einzelne Teile eines Assemblage können sich auch lösen und mit anderen Assemblages Beziehungen bilden. Dies führt dazu, dass die Frage nach dem, was eine Grenze ist, durch die Frage, wie eine Grenze wird ersetzt werden sollte, da der Fokus hier auf Praktiken und Beziehungen liegt, die sich bilden oder lösen und somit die Grenze verändern (ebd.).
  3. Die Assemblage Perspektive fokussiert sich auf Prozesse und Transformationen anstatt auf Form und Struktur. Diese Transformationsprozesse werden als Territorialisierungen und De-/Re-territorialisierungen bezeichnet. Bezogen auf Grenzen bedeutet dies, dass Grenzen keine statischen gebildet sind, sondern sich in einem permanenten Werdensprozess befinden in dem routinierte und institutionalisierte Grenzpraktiken zu Stabilisierungen der Grenze (Territorialisierung) führen während andere Prozesse wie grenzüberschreitende Regionalisierung oder Schmuggel von Waren zu Destabilisierungen der Grenze (Deterritorialisierung) führen können (ebd.).
  4. Assemblages und ihre Teile sind verbunden mit dem was Deleuze und Guattari das Virtuelle und das Aktuelle nennen (ebd.). D.h. die Eigenschaften der Bestandteile des Assemblage sind aktualisierte Merkmale, während ihre Kapazitäten virtuell sind, also möglicherweise real werden können. Eine aktualisierte Eigenschaft eines Grenzassemblage könnte z.B. die Fähigkeit zur Einwanderungskontrolle sein. Wenn jedoch die Kapazität der Grenze zur Öffnung aktualisiert wird, verändert sich das Grenzassemblage und andere Merkmale der Grenze treten hervor (S. 8).

Abschließend geht Sohn auf die Rolle von Machtbeziehungen und Grenzen ein, die durch die Assemblage Perspektive in einem neuen Licht betrachten lassen (S. 8). Nicht mehr der Staat und seine Entscheidungsmacht in Bezug auf Grenzen steht im Fokus, sondern die Macht bzw. Kapazität einzelner Akteur grenzbezogene Bedeutungen, Praktiken und Bewegungen zu beeinflussen und auszuhandeln (ebd.). Somit eröffnen sich neue, flexiblere und multidimensionale Perspektiven für die Grenzforschung.

Fazit

Sohn kommt zu dem Schluss, dass von der Assemblage Perspektive aus betrachtet, Grenzen keine klare Identität haben und nicht auf einen dichotomen Charakter reduziert werden können. Sie sind immer im Wandel und werden durch heterogene Beziehungen konstitutiert. Grenzen lassen sich daher beschreiben als „open categories, contingently determined as forms of power, territory, citizenship, nationalism, identity, security, etc.“ (S. 9). In empirischen Untersuchungen zu Grenzen müssen folglich immer die Beziehungen von Grenzeigenschaften und ihren möglichen Eigenschaften in Betracht gezogen werden. Für eine empirische Untersuchung von Grenzen empfiehlt Sohn den Fokus auf Abweichungen, Verschiebungen und Lücken im Grenzassemblage zu legen, um so die Transformationen, Bedeutungen, aktualisierten Kapazitäten und Re-und-Deterritorialisierungsprozesse von Grenzen zu erfassen.

Kernaussagen
  • Grenzen sind ontologisch multidimensional und haben mannigfaltige Bedeutungen, weshalb sie sich nicht auf die dichotomen Merkmale des Einschlusses und der Ausgrenzung reduzieren lassen
  • Perspektiven und Konzepte der von Deleuze und Guattari beeinflussten Assemblage Theorie können genutzt werden, um die ontologische Vielfältigkeit von Grenzen besser zu verstehen, zu beschreiben und zu analysieren
  • Grenzen sind nicht statisch, sondern immer im Werden. Ihre Merkmale werden durch die Interaktionen ihrer heterogenen Teile aktualisiert und durch komplexe Machtbeziehungen konfiguriert
  • Nicht nur der Staat bestimmt, was Grenzen sind, sondern auch einzelne Akteure, die mit Grenzen interagieren und sie durch Praktiken und Diskurse formen und ihnen Bedeutung verleihen
Leitung

Christophe Sohn

Verfasser des Eintrags
Perrine
Dethier
Ansprechpartner
Erstellungsdatum
2019
Erschienen in
EUBorderScapes, Working Paper