Sealing Borders ? Rethinking Border Studies in Hard Times

Sealing Borders ? Rethinking Border Studies in Hard Times

Grenzraum
Italienisch, Europa
Sprache(n)
Englisch
Einleitung

Sandro Mezzadra stellt eine Studie über Grenzen in Bewegung vor. Er betrachtet die gewalttätigen Auswirkungen, die sich ergeben aus den unterschiedlichen Interessen von globalem Kapitalismus, von differenzierenden Inklusionsbemühungen und der verzweifelten Bemühungen von Migranten und Flüchtlingen bei ihren oft tödlich endenden Versuchen, (See-)Grenzen zu überqueren.

Zusammenfassung

Mezzadra skizziert die Forschungswege der Border Studies seit den 1990er-Jahren mit einem besonderen Augenmerk auf Europa. Er verweist auf Praktiken des Grenzübertritts, Praktiken der Mobilität, der Ausbreitung, des Wandels sowie der Schließung von Grenzen und thematisiert Konzepte wie das der differenzierenden Inklusion. Mit Beispielen aus Italien und von lebensbedrohlichen Kämpfen der Migranten, die das Mittelmeer überqueren, um Europa zu erreichen, verweist er auf die derzeitige Politik der Gewalt an den Außengrenzen Europas. Weiterhin zeigt er auf, wie die aktuellen Versuche, (westliche) Grenzen zu schließen, mit politischen Diskursen über Nationalismus und der Ausbreitung eines autoritären Neoliberalismus einhergehen. Abschließend widmet Mezzadra sich der logistischen Wende und schlägt einen Ansatz vor, der logistische Studien mit Forschungen zum globalisierten Kapitalismus und kritischen Border Studies verbindet.

Inhalt

Dieses Arbeitspapier basiert auf einem Impulsvortrag, den Sandro Mezzadra am 5. November 2018 auf der internationalen Konferenz "B/ORDERS IN MOTION. Current Challenges and Future Perspectives" an der Europa-Universität Viadrina, Frankfurt (Oder), gehalten hat. Zu Beginn erinnert er an die richtungweisende Arbeit von Helmut Dietrich und dessen Forschungen zur deutsch-polnischen Grenze in den 1990er-Jahren, deren Betrachtung damals von den "Nachwirkungen des Mauerfalls und dem Ende des real existierenden Sozialismus" (S. 1) geprägt war. Mezzadra beschreibt, wie sich die Grenzbeziehungen nach dem Ende des Kalten Krieges - als Grenzen noch wie "auf eine Landkarte gezeichnete Linien" (ebd.) oder wie "eingefroren und erstarrt" (S. 2) erschienen - plötzlich zu verändern begannen und zu einem breit gefächerten Grenzverständnis und sich bewegenden Grenzen führten, die dann zum Gegenstand der europäischen Border Studies wurden.

Er weist allerdings darauf hin, dass sich die europäischen Binnengrenzen zwar zu öffnen schienen, etwa durch den Maastrichter Vertrag 1992, dass aber andere Grenzen wie die US-amerikanisch-mexikanische Grenze oder die Grenzen zwischen den ehemaligen Kolonien noch immer von gewalttätigen Begegnungen geprägt waren (ebd.).

Nach dieser Einführung skizziert Mezzadra seine eigenen ersten akademischen Berührungen mit Grenzstudien, die von europäischen Diskursen über die Außengrenzen bestimmt waren, ebenso wie vom Übergang Italiens von einem Auswanderungs- zu einem Einwanderungsland und ersten Begegnungen des Autors mit marokkanischen und senegalesischen Migranten in Genua (ebd.). Durch diese Erfahrungen und theoretisch inspiriert von den Arbeiten der Grenzwissenschaftler Étienne Balibar und Pablo Vila, begann Mezzadra, sich für die Ausprägungen von Grenzüberschreitungen und Grenzsicherungen zu interessieren, die er als "konzeptionelle Dyade” betrachtet, die “genau die Spannung zwischen zwei Polen ist, die uns dazu bringt, von der Grenze als stets in Bewegung zu sprechen" (S. 3).

Unter Hinweis auf seine gemeinsame Arbeit mit Brett Neilson und deren beider jüngste Veröffentlichungen (Border as Method, or the Multiplication of Labor, 2013; The Politics of Operations. Excavating Contemporary Capitalism, 2019), fasst Mezzadra sein persönliches Interesse und seinen Blickwinkel zum Thema ‘Grenzen’ zusammen, nämlich die Sicht auf Zusammenhänge von Migrantenbewegungen und dem globalisierten Kapitalismus sowie die Analyse der durch Grenzen bedingten "differenzierenden und hierarchischen Inklusion" (S. 3-4).

Mezzadra führt weiter aus, dass die Verlagerung von Grenzen nach außen sowie deren Ausbreitung derzeit intensiv diskutierte Themen in der Politik sind, die unter dem Aspekt eines zunehmenden Nationalismus und eines autoritären Neoliberalismus betrachtet werden muss (S. 5). Dies sind die "harten Zeiten", in denen wir uns befinden (S. 6). Er fordert die Grenzwissenschaftler auf, in diesen Zeiten "Stellung zu beziehen" und angesichts von Gewalttätigkeiten an Grenzen und Ungerechtigkeit zu intervenieren (ebd.). Anschließend beschreibt er die Grenzsituation im Mittelmeer und Italiens Bemühungen, die Grenze an den Küsten für Migranten unerreichbar zu machen. Er nennt ein Beispiel aus seiner eigenen Erfahrung, spricht über sein Engagement und seinen Aktivismus, der mit dem Ziel, Migranten vor dem Ertrinken zu retten, zum Kauf eines Rettungsschiffes beigetragen hat (ebd.). Er beendet seinen Beitrag mit einer kurzen Einführung in die logistische Wende - die Studie zur globalen Logistik, den Lieferketten und des globalen Handels, der keine Grenzen mehr kennt, aber zugleich neue Grenzen schafft, die laut Deborah Cowen wie enge Nähte funktionieren (S. 7).

 

Fazit

In seinem Beitrag zeigt Mezzadra, dass Grenzen einerseits offener und beweglicher denn je sind (grenzenlose Verbreitungsflut/globaler Kapitalismus), dass andererseits aber auch zunehmend harte Diskurse und Praktiken (Territorialisierung/Nationalismus/Migration) die Verfestigung und Abschottung durch Grenzen besonders gegenüber Migranten und Flüchtlingen aus dem Süden begünstigen. Mezzadra plädiert dafür, Partei zu ergreifen, die Stimme zu erheben und sich mit denjenigen zu solidarisieren, die kämpfen und unter Gewalt an den Grenzen leiden. Indem er die beiden Forschungsstränge ‘Migrationsstudien’ und ‘Logistikstudien’ zusammenführt, hofft Mezzadra, im Hinblick auf die globalen kapitalistischen Verhältnisse und die damit verbundene Not der Migranten neue Perspektiven zur Rolle der Grenzen zu schaffen. Mit diesem Blick auf die Grenzen fordert er eine Grenzforschung, die sich kritisch mit der gegenwärtigen politischen Ökonomie und nationalistischen Diskursen auseinandersetzt und den Spannungen und den "vielfachen Kombinationen von Naht und geschlossener Grenze" Aufmerksamkeit schenkt, um eine freiere und gleichere Zukunft "jenseits der Nation wie auch jenseits der Logistik" zu erfinden (S. 8).

Kernaussagen

Seit den 1990er-Jahren haben sich die Grenzbeziehungen dramatisch verändert; sie verkörpern nicht mehr nur einfache Linien, die Gebiete voneinander trennen, sondern sie bewegen sich ständig.

Grenzen grenzen nicht nur aus, sondern führen zu komplexen Prozessen einer unterscheidenden Inklusion; sie führen zu Gewalt, Hierarchien und Machtdynamiken zwischen Menschen und Gesellschaften.

Bestrebungen, die Grenzen zu schließen, sind derzeit in Europa und auch anderswo zu beobachten (z. B. im Hinblick auf Flüchtlinge, die das Mittelmeer überqueren). Gleichzeitig erleben nationalistische Politik und autoritärer Neoliberalismus einen Aufschwung, während der globale Kapitalismus Grenznähte näht.

Kritische Forschung, die die Zusammenhänge von Kapitalismus, Logistik, Migrationsbewegungen und Grenzentwicklungen im Auge behält, sollte sich explizit auf die Seite derjenigen stellen, die gegen Gewalttätigkeiten an den Grenzen kämpfen müssen, und "die Möglichkeit zum Schmieden neuer Ausprägungen von Freiheit und Gleichheit ergreifen" (S. 8).

Leitung

Sandro Mezzadra

Ansprechpartner
Erstellungsdatum
2020
Identifikationsnummer

ISSN 2569-6025