Räume und Identitäten in Grenzregionen. Politiken – Medien – Subjekte

Räume und Identitäten in Grenzregionen. Politiken – Medien – Subjekte

Grenzraum
Belgique, Allemagne, France et Luxembourg
Sprache(n)
Englisch
Deutsch
Einleitung

Anhand empirischer Erhebungen in Belgien, Deutschland, Frankreich und Luxemburg werden Raum- und Identitätskonstruktionen in grenzüberschreitenden Bezügen untersucht.

Zusammenfassung

Der Sammelband, nimmt eine praxistheoretische Perspektive ein. Es wird davon ausgegangen, dass „Räume und Identitäten aus sozialen Praktiken hervorgehen“ (S. 9). Anhand verschiedener Forschungen erfolgt eine Rekonstruktion medialer, institutioneller und alltagskultureller Praktiken in Grenzregionen. Luxemburg und die angrenzenden Gebiete in Belgien, Deutschland, Frankreich bilden dabei den empirischen Untersuchungskontext der einzelnen Beiträge. Analytisch wird zwischen drei miteinander verschränkten „Praktiken der Grenze“ unterschieden „(1) die Einsetzung von Grenzen als Differenzierung bzw. Selbst-/Fremdregulativ zum Außen; (2) die Überschreitung von Grenzen als affirmativer und/oder subversiver Akt mit Transformationspotential und (3) die Ausdehnung von Grenzen als ein ˈDazwischenˈ vielfältiger Relationen und Schnittmengen“ (S. 10).

Inhalt

Der Band entstand im Rahmen des interdisziplinären Forschungsprojekts IDENT2 – Regionalisierungen als Identitätskonstruktionen in Grenzräumen (2011-2014) an der Universität Luxemburg. Die Beiträge stellen eine Fortschreibung und eine Weiterentwicklung der Ergebnisse des Vorgängerprojekts IDENT – Soziokulturelle Identitäten und Identitätspolitiken in Luxemburg (2007-2010) dar. Das Projekt selbst, wie auch der Sammelband, nehmen eine praxistheoretische Perspektive ein. Es wird davon ausgegangen, dass „Räume und Identitäten aus sozialen Praktiken hervorgehen“ (S. 9). Aufbauend auf einer Verbindung von WERLENs Sozialgeographie alltäglicher Regionalisierungen zusammen mit stärker identitäts- und differenztheoretischen Einflüssen der Neuen Kulturgeographie untersuchen die Autor_innen wie Räume und Identitäten täglich gemacht werden. Hierzu wird hauptsächlich an den Foucaultschen Diskursbegriff angeknüpft. Die Forschungsschwerpunkte, die dem Projekt zugrunde lagen, umfassen „(1) eine machtkritische Perspektive auf Räumen und Identitäten, die sich besonders Politiken und Normierungen zuwendet, die in Konstruktionsprozessen wirksam und verhandelt werden; (2) eine an Medien orientierte Perspektive auf Räume und Identitäten, die Medien als Konstrukteure und Projektionsflächen sowie selbst als (Verhandlungs-)Räume versteht und (3) eine subjektzentrierte Perspektive, die das Hervorbringen von Raum- und Identitätskonstruktionen im Zuge alltagskultureller Praktiken untersucht“ (S. 11).

Der Sammelband beginnt mit einem Themenaufriss von Christian WILLE und Rachel RECKINGER, die das Projekt IDENT2 – Regionalisierungen als Identitätskonstruktionen in Grenzräumen koordiniert haben. Sie fassen zudem kurz die Entstehung des Bands zusammen und erläutern die Zusammensetzung der Arbeitsgruppen im Projekt.

Daran anschließend wird eine Übersicht über die theoretische und methodische Annäherung an Grenzen, Räume und Identitäten geboten. Martin DOLL und Johanna M. GELBERG befassen sich mit der „Einsetzung, der Überschreitung und Ausdehnung von Grenzen“. Sie beginnen ihren Beitrag mit einer Erläuterung des abstrakten Begriffs der „Grenze“, die als Linie, aber auch als (Schwellen-)Raum gedacht werden kann, aber auch auf verschiedenen Ebenen konkretisiert werden kann (bspw. territorial, sozial, ästhetisch). Mit Blick auf Luxemburg zitieren die Autor_innen FLUSSER (1996), der schreibt, dass ganz Luxemburg eine Frage von Grenzen sei. Christian WILLE und Markus HESSE legen in „Räume: Zugänge und Untersuchungsperspektiven“ die theoretische Perspektive auf den Raum, der als Frage nach seine sozialen Konstruktionsprozessen bearbeitet wird, dar. Die „Identifikations- und Identifizierungsprozesse“, die dem Sammelband zugrunde liegen werden von Sonja KMEC und Rachel RECKINGER erläutert. Am Ende dieses Kapitels bietet Christian WILLE einen Einblick in den Entstehungsprozess des Sammelbandes, indem er die Methodik (quantitative Befragung und qualitative Interviews) sowie die disziplinenübergreifende Zusammenarbeit darlegt.

Es folgen drei zentrale Kapitel, die sich der Präsentation der Ergebnisse der Teilprojekte, die sich mit den oben genannten Forschungsschwerpunkten befasst haben, in Form von kurzen Beiträgen widmen. Im Themenblock „Raum- und Identitätskonstruktionen durch institutionelle Praktiken“ skizziert die Arbeitsgruppe zunächst „das Verständnis der Foucaultschen Machtanalytik entlang ihrer zentralen Achsen Souveränität, Disziplin und Gouvernementalität“ (S. 76). Daran anschließend untersucht Heike MAUER „die ‚Problematisierung‘ der Prostitution in Luxemburg Anfang des 20. Jahrhunderts“ (S. 81). Der bezeichnende Titel ihres Beitrags lautet „Zur Konstruktion von Räumen der Un-/Sittlichkeit. Eine machtanalytische Perspektive auf die Problematisierung von Prostitution um 1900“. Bernhard KREUTZ bietet in seinem Beitrag „Burgen als Instrument herrschaftlicher Raumkonstruktion und Repräsentation. Das Beispiel der Grafschaft Vianden“ eine anschauliche Untersuchung der multiplen Funktionen von Burgen im Herrschaftssystem des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Unter dem Titel „Biogas – Macht – Raum. Zur Konstruktion von Energieräumen in Grenzräumen“ widmet sich Fabian FALLER den sozialen Praktiken, die die Situation des Energiesektors in der Großregion bilden. Elene KREUTZER untersucht in ihrem Beitrag „ ‚Souveränität‘ und ‚Disziplin‘ in Medien. Zum Nutzen von Foucaults Gouvernementalitätstheorie am Beispiel einer Interdiskursanalyse zum Migrationsdiskurs in Luxemburg“ den medialen Migrationsdiskurs für den Betrachtungszeitraum 1990 bis 2010. Das Kapitel wird durch eine Schlussfolgerung abgerundet, in der die Autor_innen dafür plädieren „politische Raumeinheiten wie ‚Luxemburg‘ oder ‚Großregion‘ nicht in ihrer statischen Begrenzung und als definitive Orte zu betrachten, sondern die darunter subsumierbaren vielfältigen Praktiken der Raumpolitik deutlich mehr in den Blick zu nehmen.“ (S. 129).

In dem vierten Kapitel „Raum- und Identitätskonstruktionen durch mediale Praktiken“ erläutern die Autor_innen zunächst ihre Herangehensweise an die Erforschung von „Repräsentationen und Projektionen“. Sie gehen folgenden Fragen nach: „Welche Rollen haben Staatsgrenzen im 20. Jahrhundert gespielt? Sind sie nach dem Schengener Abkommen verschwunden oder wurden sie durch Grenzen anderer Art ersetzt? Welche anderen materiellen und immateriellen Grenzen zeichnen sich bei der Untersuchung […] ab […]?“ (S. 139). Julia de BRES analysiert in ihrem Beitrag „Mehrsprachige Werbung und Regionalisierung in Luxemburg“´ und stellt fest, dass mehrsprachige Praktiken und Bezüge zu Grenzen im Datenkorpus im Grunde wenig dazu beitragen eine transnationale Region zu konstruieren. Paul di FELICE behandelt „Die künstlerischen und kulturellen Einsätze der für den Kunstpreis Robert Schuman ausgewählten Werke: Ausstellungs- und Publikationsräume – Orte der Verwandlung und des künstlerischen und kulturellen Zwischenraumes?“. Er kommt zu dem Schluss, dass es dem Preis teilweise gelingt neue transkulturelle Brücken zu bauen. In dem Aufsatz „Die Schwelle von Ausstellungsorten: Zugang zur Welt der Kultur“ stellt Céline SCHALL fest, dass v.a. der strategische Aspekt der Vermittlungsarbeit des Museums (die Schwelle gilt hier als ein Indiz neben anderen) durchdacht werden müsste. Till DEMBECK hinterfragt in die „Literatur des Zwischenraums. Die mehrsprachigen Inszenierungen des Verlags ultimomondo“ „die sprachliche und räumliche Gebundenheit literarischer Kommunikation“ (S. 186). In dem Aufsatz „ ‚Mir gesinn eis dono op facebook‘ [‚Wir sehen uns später auf facebook‘, eigene Übersetzung]– Mediale (Selbst-)Inszenierungen luxemburgischer Jugendlicher als virtuelle Identitätskonstruktionen“ von Luc BELLING geht es um identitätsbildende Selbstdarstellungen im Kontext von digitalen sozialen Netzwerken. Sonja KMEC und Agnès PRÜM befassen sich beide mit „Tankstellen als Zwischenräume“. Die erstgenannte Autorin geht auf „Praktiken und Narrative“ ein, während die „Transfiguration“ den Schwerpunkt des Beitrags der zweitgenannten Autorin bildet. In den Schlussfolgerungen heben die Autor_innen hervor, dass „Medien der Darstellung, als Kontaktzonen betrachtet, es in der Tat ermöglichen, zwischen unterschiedlichen Beschreibungsebenen ‚Passagen‘[…] zu eröffnen […]“ (S. 138).

Im fünften Themenblock werden „Raum- und Identitätskonstruktionen durch alltagskulturelle Praktiken“ untersucht. Das Autorenteam beginnt mit einer Einführung zu „Subjektivationen und Subjektivierungen“. Daran anschließend analysiert Rachel RECKINGER basierend auf einem polysemischen Konzept von Nachhaltigkeit im Ernährungsbereich „Alltagspraktiken nachhaltiger Ernährung aus der Perspektive von räumlichen Identifizierungen“ und zeigt gouvernementale Reflexivitätsmodi im Ernährungsbereich in Grenzräumen auf. In dem Aufsatz „GenderRäume“ schreiben Julia Maria ZIMMERMANN und Christel BALTES-LÖHR, dass an der Vorstellung festgehalten werden kann, „dass die Grenzen zwischen männlicher und weiblicher Subjektposition im öffentlichen Raum verschwimmen und ein dekonstruktivistisches und vielfältiges Grenzland der Begegnung entstehen lassen“ (S. 282). „Identitätskonstruktionen und Regionalisierung am Beispiel des Totengedenkens im Treverergebiet (2./3. Jahrhundert n. Chr.): Familienidentitäten auf Grabmonumenten in Arlon“ bilden den Themenschwerpunkt von Andrea BINSFELDs Essay. Sie zeigt, dass es in dem Gebiet einen kreativen Umgang mit den römischen Vorgaben gab. Diese stellten demnach Angebote dar und keine verbindlichen Normen. Laure CAREGARI schreibt in ihrer Untersuchung von „Arbeiterkolonien und ihre Bewohner/-innen: Raumkonstruktionen und kollektive Subjektkonstitution“, dass die Subkultur einer umfassenderen Arbeitskultur „den Ort der Kolonie als Ausdruck kollektiver Disziplinierung durch Gleichheit und Materialität“ generiert (S. 309). In dem Aufsatz „Periurbanes Luxemburg. Definition, Positionierung und diskursive Konstruktion suburbaner Räume an der Grenze zwischen Stadt und Land“ bestätigt Markus HESSE die Hybridisierung räumlicher Zusammenhänge. Eva Maria KLOS und Benno SÖNKE SCHULZ heben in „Das Erinnern an den Zweiten Weltkrieg in Luxemburg und den Grenzregionen seiner drei Nachbarstaaten“ einmal mehr die Unbeständigkeit von Identitätsentwürfen hervor. In dem Text „Beyond Luxembourg. Raum- und Identitätskonstruktionen im Kontext grenzüberschreitender Wohnmigration“ kommen Christian WILLE, Gregor SCHNUER und Elisabeth BOESEN, zu dem vorsichtigen Schluss, „dass grenzüberschreitende Praktiken bisher nicht den generellen Effekt haben, eine homogene Wahrnehmung der grenzüberschreitenden Wohnmigration herzustellen“ (S. 346). Heinz SIEBURG und Britta WEIMANN analysieren „Sprachliche Identifizierungen im luxemburgisch-deutschen Grenzraum“. Sie halten fest, dass das Luxemburgische für seine Sprecher_innen einen hohen kommunikativen wie symbolischen Wert hat, „was dazu führt, dass das Sprechen eines deutschen Dialekts in Luxemburg wegen der geringeren kommunikativen Reichweite und des niedrigeren Status nicht von allen Sprecher/-innen als adäquat angesehen wird“ (S. 361 f.). Wie bei den vorherigen Kapiteln werden gegen Ende einige Schlussfolgerungen gezogen, die sich hauptsächlich auf die konstruktivistisch-relationale Perspektive auf die Untersuchungsgegenstände der Autor_innen beziehen.

Das Band endet mit einem Ausblick von Markus HESSE, der Luxemburg im Anschluss an ein Zitat aus dem Luxemburger Wort (Tageszeitung) als „das Singapur des Westens“ thematisiert und folgende weiterführende Fragen diskutiert „(1) Welche Konsequenzen hat eine weiter gefasste Perspektive, die über den Untersuchungsraum in diesem Band hinausgeht, und zwar bis zur globalen Ebene? (2) Welche erkenntnisleitende Rolle kommt dabei dem Begriff der Mobilität zu, und zwar der Mobilität von Personen, Gütern, Ideen, Informationen und auch von ökonomischen Werten? Inwiefern tragen diese Ströme zur Konstitution von Räumen bei?“ (S. 381).

Fazit

Der Ausgangspunkt der Forscher_innen ist, dass Grenzen „keine gegebenen, natürlichen Tatsachen“ (S. 16) sind, sondern dass sie gesetzt werden. In dem Band wird das alltägliche „Geographie-Machen“ anhand ganz unterschiedlicher Fallstudien untersucht. Dazu stützen sich die Wissenschaftler unter anderem auf eine breit angelegte quantitative Befragung von 3.300 Personen, die in Luxemburg und in den angrenzenden Gebieten in Belgien, Deutschland und Frankreich leben; sowie auf 47 qualitative Interviews mit Bewohnern der Region.

Die vier Fallstudien, die im Kapitel über institutionelle Praktiken vorgestellt werden, verbinden heterogene Untersuchungsgegenstände unter dem Gesichtspunkt der Foucaultschen Diskussion einer besonderen Machtlogik, die ihre Wirksamkeit und ihren Geltungsbereich vor allem durch eine variable Kombination „der verschiedenen Machtlogiken von Souveränität, Disziplin und Gouvernementalität erlangt“ (S. 128). Insgesamt plädieren die Autor_innen dafür, „politische Raumeinheiten wie ˈLuxemburgˈ oder ˈGroßregionˈ nicht in ihrer statischen Begrenzung und als definitive Orte zu betrachten, sondern die darunter subsumierbaren vielfältigen Praktiken der Raumpolitik deutlich mehr in den Blick zu nehmen“ (S. 129). In dem vierten Kapitel wird innerhalb von sieben Beiträgen der Frage nach dem Zusammenhang von „Raum- und Identitätskonstruktionen durch mediale Praktiken“ nachgegangen. Die Fallstudien setzen „Raumstrukturen auf unterschiedlichen Ebenen miteinander in Verbindung“ (S. 237). Im darauffolgenden Kapitel stehen alltagskulturelle Praktiken im Vordergrund. In den insgesamt acht Fallstudien legen die Autor_innen den Schwerpunkt auf Subjektivierungen, „d.h. auf die Frage, wie Normsetzungen und Sinnzuweisungen in alltagskulturellen Praktiken tatsächlich gelebt werden“ (S. 362).

Auch wenn das Ziel des Sammelbands nicht darin bestand, aus den Forschungsergebnissen konkrete Empfehlungen für die Praxis der Entwicklung von Grenzräumen abzuleiten, so lässt die Vielfalt der behandelten Fragestellungen sicherlich doch einige Anknüpfungspunkte zu. Dies wird bspw. anhand der gekürzten Fassung des Interviewleitfadens, der im Band enthalten ist und einen Einblick in die Heterogenität der behandelten Themen, die von (1) Wohnen in der Großregion zu (2) Essen und Trinken und (3) Freizeit über (4) Männer und Frauen reichen, deutlich (S. 389 ff.).

Kernaussagen
  • Die Frage nach „Raum“ wird als Frage nach seinen sozialen Konstruktionsprozessen bearbeitet.
  • Grenzen sind „keine gegebenen, natürlichen Tatsachen“ (S. 16), sondern sie werden gesetzt.
  • Das Konzept der Grenze ist facettenreich.
  • In dem Band wird Raum „im Sinne der Werlenschen Konzeption von Sozialgeographie als Manifestation gesellschaftlicher Strukturen (Regelungssysteme, Kommunikation, Politiken) sowie individueller Wahrnehmungen, Setzungen und Praktiken verstanden, die Raum ˈproduzierenˈ“ (S. 27).
  • Eine der Schlussfolgerungen die daraus hervorgehen, ist dass die vielfältigen Praktiken der Raumpolitik bei der Betrachtung politischer Raumeinheiten wie ˈLuxemburgˈ oder ˈGroßregionˈ mehr Beachtung finden sollten.
Leitung

Christian Wille, Rachel Reckinger, Sonja Kmec und Markus Hesse

 

Ansprechpartner
Erstellungsdatum
2018
Datum
Verlag
transcript Verlag, Bielefeld
Identifikationsnummer

ISBN: 978-3-8376-2649-0

E-ISBN: 978-3-8394-2649-4

ISBN: 978-3-8376-2650-6 (Englische Version)