Identities and Methodologies of Border Studies: Recent Empirical and Conceptual Approaches

Identities and Methodologies of Border Studies: Recent Empirical and Conceptual Approaches

Sprache(n)
Englisch
Einleitung

Die Border Studies haben in den letzten Jahrzehnten an Bedeutung gewonnen. Wenig Aufmerksamkeit erhielten jedoch Fragen nach den Selbstverständnissen und Grundlagen der Border Studies. Das Themenheft bündelt Beiträge, die diese Desiderata aufgreifen und bearbeiten.

 

Zusammenfassung

Die Border Studies haben in den letzten Jahrzehnten an Bedeutung gewonnen und einen spürbaren Entwicklungsschub erfahren. Dieser äußert sich in einer stärkeren Institutionalisierung, einer Ausdifferenzierung der Erkenntnisinteressen und einer an Prozessen interessierten konzeptionellen Neuorientierung. Wenig Aufmerksamkeit erhielten jedoch bisher Fragen nach den (inter-)disziplinären Selbstverständnissen und methodologischen Grundlagen der Border Studies und den damit verbundenen Konsequenzen für das Forschungshandeln. Das Themenheft adressiert diese Desiderata und versammelt Artikel, die sich mit ihren (inter-)disziplinären Grundlagen sowie method(olog)ischen und forschungspraktischen Fragen auseinandersetzen. Die Autor*innen geben darüber hinaus fundierte Einblicke in ein disparates Arbeitsfeld, legen forschungspraktische Strategien offen und stellen methodologisch versierte Systematisierungen vor.

Inhalt

The multiplication of border methodology (Gerst/Krämer)
Der Beitrag unterscheidet vier methodologische Perspektiven innerhalb der Grenzforschung: Auf die Grenze sehen, über die Grenze sehen, in die Grenze sehen, wie eine Grenze sehen. Es werden die zentralen Merkmale dieser Perspektiven herausgearbeitet und anhand von verschiedenen empirischen Studien vorgestellt. Der Beitrag schlägt einen alternativen Ordnungsversuch des diversifizierten Felds der Grenzforschung vor.

Border or bordering practice? Changing perspectives on borders and challenges of praxeological approaches (Connor)
Trotz der populären Verwendung des Begriffs „Praxis“ spielen soziologische Praxistheorien noch eine untergeordnete Rolle in der Grenzforschung. Der Beitrag zeigt, inwiefern soziologische Praxistheorien mit der Praxis- und Prozessorientierung der Grenzforschung anschlussfähig sind. Es werden ein Überblick über das praxeologische Denken in der Soziologie gegeben und methodologische Herausforderungen identifiziert, die für die Entwicklung praxeologischer Forschungsperspektiven auf Grenzen relevant sind.

State Borders and Archaeological Ethnography: (Checkpoint) Practice, Materiality and Discourse (Bochmann)
Der Artikel diskutiert die Vorteile einer archäologischen Ethnographie für die Untersuchung von Staatsgrenzen. Dafür kombiniert die Autorin zwei Forschungsansätze: eine ethnomethodologisch informierte Ethnographie und eine von Foucault inspirierte Diskursanalyse und archäologische Methode. Die archäologische Ethnographie erweist sich als besonders produktiv, da sie die Komplexitäten von Staatsgrenzen zu erfassen vermag, die Mikro-Makro-Teilung überwindet und zugleich die Situiertheit des Sozialen sowie den Macht-Wissens Nexus berücksichtigt. Damit leistet der Text einen Beitrag zur methodologischen Diskussion und zu den erkenntnistheoretischen Problemen in der Analyse zu Staatsgrenzen.

Cross-border Collaborations as “Contact Zones”: Methodological Reflections on Ethnographic Studies in Border Regions (Kleinmann/Peselmann)
Der Beitrag beruht auf Studien im deutsch-polnisch-tschechischen Grenzgebiet und zeigt, wie der Kontaktzonen-Begriff als Heuristik für grenzübergreifende Initiativen genutzt werden kann. Kontaktzonen werden dabei als soziale Räume verstanden, die von Machtverhältnissen durchzogen und von historischer Gewordenheit gekennzeichnet sind und sich aus den Positionierungen der beteiligten Akteure*innen ableiten lassen. Über die ethnografische „tracking“-Strategie zeigen die Autorinnen, wie sich das Forschungsfeld konstituieren und beforschbar machen lässt. Daneben wird die teilnehmende Beobachtung als Methode vorgeschlagen zur Untersuchung situativer (Re)Produktionen von Kontaktzonen durch diskursive und körperliche Praktiken sowie materielle Arrangements.

Of borderlands and peripheries: The promise of cooperation (Kaden)
Der Beitrag untersucht die Durchlässigkeit innereuropäischer Grenzen und berücksichtigt, dass Grenzziehungsprozesse auf die fortlaufende Reproduktion sozio-kultureller Grenzen angewiesen sind. Die Dokumentarische Methode wird dabei als vielversprechender Ansatz betrachtet, um das Verhältnis zwischen grenzüberschreitenden Kooperationspraktiken und alltäglichen Grenzziehungsprozessen näher zu bestimmen. Dies wird am Beispiel grenzüberschreitender Stadtentwicklung im polnisch-deutschen Grenzraum demonstriert und empirisch gezeigt, inwiefern Kooperationen vom Spannungsverhältnis zwischen absoluten und relationalen Raumkonzepten geprägt sind.

Borders, Migration, Struggles: A Heuristic for Analysis of Border Politics (Sperling, Niebauer, Holderied)
Der Beitrag skizziert eine Reihe von Prämissen aus der Kritischen Grenz- und Migrationsforschung für die reflexive Analyse von Grenzen und Grenzpolitiken. Die Autor*innen diskutieren dafür erstens die ontologische Dimension von Grenzen, indem sie auf die Konstruiertheit, die Produktivität sowie die Vielfältigkeit von Grenzen eingehen. Zweitens behandeln die Autor*innen die politische Dimension von Grenzziehungsprozessen, indem sie die Rolle von Kämpfen, Akteuren und Arenen sowie sozialen Strukturen herausarbeiten. Drittens zeigen sie Wege auf, wie die globale Dimension von Grenzprozessen analysiert werden kann.

The Seven Follies of Lampedusa (Dorbolò)
Der Beitrag zeigt am Beispiel der Insel Lampedusa, wie Architektur die dominierenden Narrative um Grenzen und Migration destabilisieren kann. Dafür gliedert sich der Text in eine Betrachtung zur Rolle von Landschaft bei der Transformation Lampedusas in eine Grenzinsel und in einen architektonischen Vorschlag für eine fiktive Intervention, um dieser Transformation entgegenzuwirken. Ausgehend von einer Linie, die senkrecht zur Grenzlinie verläuft, überwindet dieser Vorschlag symbolisch das Bild der Grenze als Trennlinie und zeigt ihr Potenzial als Verbindungslinie auf. Dies geschieht über sieben architektonische Interventionen, die für die Reproduktion sozialer Konstruktionen stehen und imaginäre Linien in reale Grenzen zu transformieren vermögen.

The Approach of Contemporary History to Border Studies in Europe (Wassenberg)
Der Beitrag untersucht, wie Historiker*innen der Zeitgenössischen Geschichte die Border Studies interpretieren. Er zeigt, dass sie die Border Studies aus dem Blickwinkel der globalen Geschichte betrachten und das Forschungsfeld entweder über individuelle Fallstudien in Grenzregionen oder als eigenen Forschungsstrang zum Europäischen Einigungsprozess behandeln. Der Beitrag argumentiert, dass Historiker*innen – wenn sie sich für neue Forschungsmethoden öffnen und eine multiskalare Perspektive einnehmen – mit Langzeitperspektiven und Betrachtungen zur historischen Gewordenheit von Grenzen einen Beitrag zu den Border Studies leisten.

Fazit

D. Gerst und H. Krämer rekonstruieren unterschiedliche methodologische Perspektiven in den Border Studies und schlagen eine spezifische Heuristik bestehend aus vier „border gazes“ vor. Ziel dieser Unterscheidung ist es “to provide an overview of the diversity of border-analytic positions and their methodological foundation, and, in doing so, to address a gap in the research field’s self-analysis” (S. 18). Die Autoren legen somit einen methodologischen Ordnungsversuch mit geeigneten Kriterien vor, um geographisch unterschiedliche aber forschungspraktisch und erkenntnistheoretisch nahe beieinanderliegende Forschungen zu verbinden.

U. Connor knüpft an den „processual turn“ an und setzt sich mit dem prominenten Begriff der Praktik kritisch auseinander: “the meaning of the term ‘practice’ in border studies […] remains implicit in most of the studies. […] As a research category, the term ‘practice’ or ‘bordering practice’ should be clearly distinguished from everyday meanings and explicitly reveal its related assumptions to be subject of critical discussion in the research community.” (S. 34). Die Autorin schlägt vor, den Praktikenbegriff mit soziologischen Praxistheorien zu verschneiden und somit die prozessorientierte Forschungsperspektive in den Border Studies theoretisch-konzeptionell zu stärken.

A. Bochmann macht sich mit Blick auf die Komplexitäten von Staatsgrenzen für eine Archäologische Ethnographie stark: „State borders are not simply the result of national regulations and (global) discourses and orders; instead, borders are the result of the usage and application of these discourses in public life as well as the local accomplishments of people’s practices.” (S. 50) Der methodologische Vorschlag zur Untersuchung dieses Nexus verbindet ethnomethodologisch informierte Ethnographien mit einer von Foucault inspirierten archäologisch-genealogischen Diskursanalyse.

S. Kleinmann und A. Peselmann arbeiten mit einem ethnographischen Zugang und interessieren sich in ihrer Fallstudie für die (Re-)Produktionsprozesse von kulturellen Kontaktzonen. Für die Untersuchung der relevanten grenzüberschreitenden Kooperationspraktiken werden diskursive, körperliche und materielle Aspekte sowie Machtverhältnisse berücksichtig und über teilnehmende Beobachtungen erschlossen: “We [...] propose participant observation as a tool to examine the situational (re)productions of contact zones by discursive and bodily practices as well as material arrangements.“ (S. 57).

U. Kaden wendet sich grenzüberschreitenden Kooperationspraktiken aus praxeologischer Perspektive zu und fokussiert auf den Aspekt des Wissens. Dafür schlägt sie die Dokumentarische Methode vor: „Instead of following the cooperation partners’ interpretation of ideas and everyday routines […], attention is being paid to how their practice is accomplished […]. This includes, for example, examining the ways in which cooperation partners illustrate their everyday routines, how they make specific arguments, and how their responses draw on particular narratives, concepts, and references.” (S. 75f.) Über diesen Zugang gelingt es zu zeigen, inwiefern Kooperationspraktiken mit verschiedenen und teilweise gegenläufigen Logiken der lokalen grenzüberschreitenden Beziehungen verknüpft sind.

S. Sperling, D. Niebauer und L. Holderied adressieren „border politics“ und die Frage, wie diese untersucht werden können. Sie verorten „border politics“ im Schnittfeld verschiedener Ansätze der kritischen Grenz- und Migrationsforschung und legen eine Differenzierung vor, die “aims at systemizing existing positions and developing an analytical heuristic for studying border politics as border struggles.“ (S. 87) Dafür unterscheiden die Autor*innen drei analytische Dimensionen, die verschiedene Forschungsansätze einschließen und verbinden.

C. Dorbolò verbindet verschiedene disziplinäre Zugänge zu Grenzen über einen architekturorientierten Ansatz. Dabei nutzt sie “the power of architecture as a critical tool to challenge the political state of affairs” (S. 105) und zeigt, wie Architektur die dominierenden Narrative über Grenzen und Migration destabilisieren kann.

B. Wassenberg untersucht die Rolle der Border Studies in der zeitgenössischen Geschichte und zeigt, dass Grenzen hier zumeist mit Area Studies und der Europäischen Integrationsgeschichte verknüpft sind. Die Autorin schlägt eine Öffnung der zeitgenössischen Geschichte für multiskalare und integrative Untersuchungsdesigns vor: „From a methodological point of view, contemporary historians could […] adopt a Multi-Orientated Scale Approach to European Integration and cross-border cooperation and European Integration (MOSAIC), which reconstructs the development of multiple local cooperation histories in order to reinterpret them in the general framework of the history of European integration“ (S. 120). Dieser Ansatz soll Wege zu einer neuen dezentrierten Geschichte der Europäischen Integration eröffnen.

Kernaussagen
  • Vier methodologische Perspektiven als alternativer Ordnungsvorschlag: Auf die Grenze sehen, über die Grenze sehen, in die Grenze sehen, wie eine Grenze sehen (Gerst/Krämer)
  • Verknüpfung des Praktikenbegriffs mit soziologischen Praxistheorien zur theoretisch-konzeptionellen Stärkung der Praxis- und Prozessorientierung der Grenzforschung (Connor)
  • Archäologische Ethnographie als komplexitätsorientierte Methodologie zur Analyse von Staatgrenzen (Bochmann)
  • Grenzüberschreitende Kontaktzonen über teilnehmende Beobachtung ethnographisch erschließen (Kleinmann/Peselmann)
  • Grenzüberschreitenden Kooperationspraktiken über die Dokumentarische Methode als Wissenspraxis erschließen (Kaden)
  • Ontologische, politische und globale Dimension für die reflexive Analyse von Grenzen und Grenzpolitiken (Sperling, Niebauer, Holderied)
  • Architektonische Interventionen zur Destabilisierung und Transformation von Grenzen (Dorbolò)
  • Multiskalare und integrative Untersuchungsperspektiven für eine neue Zeitgeschichte der Europäischen Integration (Wassenberg)
Leitung

Christian Wille (Universität Luxemburg), Dominik Gerst (Universität Duisburg-Essen), Hannes Krämer (Universität Duisburg-Essen

Verfasser des Eintrags
Beiträge

Annett Bochmann (Universität Siegen)
Ulla Connor (Universität Luxemburg)
Chiara Dorbolò (Amsterdam Academy of Architecture)
Dominik Gerst, (Universität Duisburg-Essen)
Laura Holderied (Carl von Ossietzky Universität Oldenburg)
Ulrike Kaden (Universität Leipzig)
Hannes Krämer (Universität Duisburg-Essen)
Sarah Kleinmann (Deutsches Institut für Menschenrechte)
Jussi P. Laine (University of Eastern Finland)
David Niebauer (Georg-August-Universität Göttingen)
Arnika Peselmann (Julius-Maximilians-University Würzburg)
Simon Sperling (Universität Osnabrück)
Birte Wassenberg (University of Strasbourg)
Christian Wille (Universität Luxemburg)

Ansprechpartner
Erstellungsdatum
2020